Jeanne Mammen (1890-1976). Die Beobachterin. Retrospektive 1910-1975 vom 6. Oktober 2017 - 15. Januar 2018 in der Berlinischen Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.09.2017


Jeanne Mammen (1890-1976). Die Beobachterin. Retrospektive 1910-1975 vom 6. Oktober 2017 - 15. Januar 2018 in der Berlinischen Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
AVIVA-Redaktion

Mit einer der bisher umfangreichsten Jeanne Mammen-Retrospektiven widmet sich die Berlinische Galerie nun der Wiederentdeckung der ikonischen Arbeiten der Jahre 1910 bis 1975 der Berliner Zeichnerin, Grafikerin, Malerin und bildenden Künstlerin. Als eine der sperrigsten und schillerndsten Figuren der jüngeren, deutschen Kunstgeschichte repräsentiert sie den Typus der starken selbständigen Frau zu Beginn der Moderne.




Jeanne Mammens Gesamtwerk spiegelt in all seinen heftigen Brüchen mit unterhaltsamen wie kritisch kommentierenden Arbeiten die politischen und ästhetischen Erschütterungen des letzten Jahrhunderts. In Fachkreisen wird sie bereits seit Langem weit über Berlin und Deutschland hinaus geschätzt. Einer breiten Öffentlichkeit ist sie jedoch bisher wenig bekannt. Das Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur möchte dies nun mit einer Einzelausstellung ändern. Gezeigt werden rund 170 Arbeiten aus über 60 Schaffensjahren. Dabei setzen rund 50 Gemälde einen besonderen Schwerpunkt – neben Aquarellen, Zeichnungen, Illustrationen, Karikaturen, Filmplakaten und Skulpturen. Die Ausstellung wird gerahmt von Zeitdokumenten wie Fotos, Magazinen, Filmen, Briefen, Publikationen – konzipiert und kuratiert von der Jeanne Mammen-Expertin Dr. Annelie Lütgens, Leiterin Grafische Sammlung der Berlinischen Galerie.



Im Sturm der Zeit - Stationen einer Biografie

Jeanne Mammen wurde 1890 als Kind einer vermögenden Unternehmerfamilie in Berlin geboren. 1901 zog die Familie aus geschäftlichen Gründen nach Paris, wo Jeanne mit drei Geschwistern behütet aufwuchs und das fortschrittliche Lycée Molière besuchte. Mit 16 Jahren begann sie eine Kunstausbildung an der Pariser Académie Julian. Es folgten Studienaufenthalte in Brüssel und Rom. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 erfuhr die Künstlerin einen jähen Angriff auf ihre Existenz, denn in Frankreich lebende Deutsche wurden enteignet und ausgewiesen. Mittellos wagte sie einen Neustart in ihrer alten Heimatstadt, wo sich erstmals ihre Fähigkeit zeigte, selbst den widrigsten Umständen zu trotzen. Sowohl ihr Talent als auch ihre Vielseitigkeit bescherten Jeanne Mammen nach entbehrungsreicher Zeit ab ca. 1925 künstlerischen Erfolg und Wohlstand. 1933 kam es zur zweiten existenziellen Katastrophe in ihrem Leben: Naziherrschaft und Weltkrieg beendeten ihre Karriere, drängten sie zum Rückzug und brachten sie in große finanzielle Nöte. Alles andere als unproduktiv überstand sie in Berlin auch diese Zeit der Armut und Entbehrungen. 1945 kehrte die Künstlerin in die Öffentlichkeit zurück.



Die ´Goldenen´ Zwanziger

Die Künstlerin saugte stetig unterschiedliche Kunst-Strömungen auf und entwickelte diese auf ganz eigene Art weiter. In jungen französischen Jahren machte sie sich einen effektvollen Symbolismus und Ästhetizismus zu Eigen. In Berlin belieferte sie den boomenden Zeitungs-und Zeitschriftenmarkt der Weimarer Republik erfolgreich mit eleganten Modeillustrationen und geistreichen Karikaturen, mit gezeichneten oder aquarellierten Großstadtszenen und Porträts im Stil der Neuen Sachlichkeit und später im Stil eines schroffen Realismus. Jeanne Mammen scheute kein Milieu und keine Erfahrung. Sie suchte geradezu die Begegnung mit urbaner Frivolität oder krasser Armut, mit glamourösen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen oder Figuren am Rande der Gesellschaft. Oft lag ein schöpferischer Fokus auch auf der Darstellung des damals revolutionären Typos der unabhängigen "Neuen Frau". 1929 schrieb Kurt Tucholsky eine begeisterte "Liebeserklärung" an ihre Arbeit. Der Galerist Wolfgang Gurlitt organisierte 1930 ihre erste Einzelausstellung.
Insgesamt schuf Jeanne Mammen einen starken Beitrag zur Ikonografie der 1920er-Jahre und bildete in ihren Arbeiten eine von Gegensätzen zerrissene Metropole zwischen Lebenslust, Luxus, Inflation und Weltwirtschaftskrise ab.

Im Zeichen des Widerstands - Jahre der Isolation, Experimente und Abstraktion

Die Jahre der Diktatur 1933-45 überstand Jeanne Mammen zurückgezogen mit Hilfe von Freund_innen und Kleinstaufträgen. Trotz der Möglichkeit zu Flucht und Exil lebte sie weiterhin in ihrem Wohnatelier Kurfürstendamm 29 in Berlin. Beim Besuch der Pariser Weltausstellung 1937 kam es zur Begegnung mit Picassos kubistischem Opus Magnum Guernica, das einen wegweisenden Eindruck auf die Künstlerin machte: Wie aus Verachtung für die Gewaltherrschaft der Nazis, kubistische, von den Nazis als "entartet" betitelte Kunst entstehen konnte. Damit begann für sie die zunächst heimliche Phase futuristisch-abstrakter Bildexperimente im Zeichen eines inneren Widerstands und zur Stärkung ihres Durchhaltevermögens.



Jeanne Mammen entwickelte diese Linie nach der Befreiung Deutschlands durch die Alliierten 1945 offensiv weiter. Nach Bühnenbild-Experimenten im Nachkriegskabarett "Die Badewanne" und einem kurzzeitigen Wiedereinstieg als Pressezeichnerin widmete sie sich die nächsten 30 Jahre ihres Lebens ausschließlich der Malerei. Das Alter, zahlreiche ästhetische Versuche, herbe Lebenserfahrungen und Isolation hatten ihre Abkehr von realistischen Darstellungen von Großstadttypen verstärkt. Stattdessen wurden meist Masken und Marionetten, Flächen, Symbole und Rätsel zum Gegenstand ihrer Gemälde. Was blieb, war die verhaltene Farbigkeit und der herbe Duktus unterschiedlicher Stilphasen, die als einzige Elemente einen Bogen vom frühen zum späten Werk spannten.

Jeanne Mammens Werk ist Zeugnis einer Epoche der Extreme



Innerlich blieb sich die Künstlerin zeitlebens treu: Sie wurde nie Teil einer der vielen, innovativen, meist von Männern dominierten Kunstbewegungen der frühen Moderne wie dem Dadaismus oder dem Surrealismus. Konsequent verweigerte sie jegliche ideologische Vereinnahmung, mied Gruppen und Versammlungen. Als Einzelgängerin und scharfsinnige Beobachterin entwickelte sie sich zu einer einzigartigen, kraftvollen Persönlichkeit mit klarer Botschaft: Distanz schafft Nähe. Jeanne Mammens Kunst ist bis heute unverwechselbar und wichtiges Zeugnis einer Epoche der Extreme, die eine Entdeckung, nähere Betrachtung und stärkere Verbreitung mehr als verdient.
Zuletzt wurden ihre Arbeiten 2016 im Stadtmuseum Berlin anlässlich der Ausstellung "Berlin - Stadt der Frauen" und 2008 im Georg-Kolbe-Museum im Rahmen der Ausstellung Glamour. Das Girl wird feine Dame – Frauendarstellung in der späten Weimarer Republik gezeigt.

Um ihren künstlerischen Nachlass nach ihrem Tod am 22. April 1976 zu bewahren und zu betreuen, gründeten engste Freund_innen die "Jeanne-Mammen-Gesellschaft". 2003 wurden die "Jeanne-Mammen-Stiftung" und der "Förderverein der Jeanne Mammen-Stiftung e. V." gegründet.



Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910-1975
6. Oktober 2017-15. Januar 2018
Eröffnung am 5. Oktober 2017 um 19 Uhr
Veranstaltungsort: Berlinische Galerie
Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur
Alte Jakobstraße 124-128
10969 Berlin
Öffnungszeiten:
Mittwoch–Montag 10:00–18:00 Uhr
Dienstag geschlossen
Geöffnet an folgenden Dienstagen: 03.10., 31.10. und 26.12.2017
Eintrittspreise:
Tageskarte 10 Euro, ermäßigt 7 Euro (gilt auch für Gruppen ab 10 Personen). Jeden ersten Montag im Monat 6 Euro
Freier Eintritt bis 18 Jahre. Ermäßigung bei Vorlage eines Tickets des Jüdischen Museums Berlin am Tag des Erwerbs und an den zwei folgenden Tagen. Dieses Angebot gilt auch umgekehrt.

Weitere Informationen zur Ausstellung unter: www.berlinischegalerie.de

Weitere Informationen zu Jeanne Mammen auf den Seiten der "Jeanne-Mammen-Gesellschaft e. V." unter: www.jeanne-mammen.de

Eine Besichtigung des Ateliers von Jeanne Mammen ist nach Terminvereinbarung möglich. Mehr Informationen dazu unter www.berlin.de

Jeanne Mammen - Paris – Bruxelles – Berlin
Hg. Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung e.V. in Zusammenarbeit mit dem Frankreich Zentrum, Freie Universität Berlin
Mit Beiträgen von Lydia Böhmert, Julia Drost, Annelie Lütgens, Cornelia Pastelak-Price, Ines Quitsch, Adelheid Rasche, Hildegard Reinhardt, Camilla Smith, Jill Smith, Rainer Stamm, Günter Stock, Johann Thun und Margarete Zimmermann
Zur großen Jeanne-Mammen-Retrospektive in der Berlinischen Galerie 2017
Forschungsergebnisse des ersten wissenschaftlichen Symposiums zu Jeanne Mammen in Berlin 2014
Hardcover, 232 Seiten mit 262 meist farbigen Abbildungen
Deutscher Kunstverlag, erschienen 2016
ISBN: 978-3-422-07375-335,00 Euro
24,90 Euro
Mehr Infos: www.deutscherkunstverlag.de


Die Ausstellung wird unterstützt durch die Jeanne-Mammen-Stiftung, den Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung e.V., das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin-Buch und den Förderverein Berlinische Galerie e.V.
Die Ausstellung wird ermöglicht durch die LOTTO-Stiftung Berlin und die Kulturstiftung der Länder.

Quelle: Pressemitteilung der Berlinische Galerie. Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Förderverein der Jeanne-Mammen-Stiftung e.V.

Copyright Fotos: Sharon Adler


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Beitrag vom 20.09.2017

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